Das Zeitalter des Postfaktischen

"Postfaktisch" ist, wie nicht anders zu erwarten war,  von der Duden-Redaktion zum Wort des Jahres 2016 gewählt worden. Spätestens seit PEGIDA, AfD und vor allem dem Wahlkampf in den Vereinigten Staaten hören wir es fast täglich. Was bedeutet es? In welchem Verhältnis steht es zu unserer Zeit? Beginnt damit etwa ein neues Zeitalter?

Wie bei allen Dingen, ist auch das Postfaktische nicht vom Himmel gefallen. Der Bestandteil 'Post' suggeriert ja, dass etwas Altes vorbei sei und etwas Neues begonnen habe, so als gäbe es keine Fakten mehr oder als seien sie irrelevant geworden. Das ist so nicht richtig! Das Problem besteht weniger darin, dass es keine Fakten mehr gäbe, sondern zunächst einmal darin, dass es zu viele Fakten gibt. Warum ist das so?

 

Es würde jetzt zu weit führen, die Geschichte der Kommunikation abzuhandeln. Fakt ist aber, dass der Mensch schon immer versucht hat, möglichst viele Fakten zu sammeln. Am Lagerfeuer haben unsere nackten Vorfahren schon in Afrika gebannt den Geschichten der Älteren und Ältesten gelauscht. So lernten sie ganz praktisch, wie man in der Welt, in der sie lebten, überlebte. Diese Welt war, verglichen mit unserer, klein und überschaubar - aber gefährlich! "Wie vermeide ich es, zur Mahlzeit eines Löwen zu werden? Wie komme ich selbst an nahrhaftes Fleisch? Wo jagen wir morgen, und was und wie?" waren praktische Fragen, die hier beantwortet wurden. "Wer von uns ist der beste Jäger oder Spurensucher?"  war eine Frage, die wichtig war, um die Rangordnung in der Gruppe auszuhandeln. Es ging aber sicher auch damals schon um eine Frage, die für alle Gruppen wichtig ist: Die Frage der Identität! "Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?". Das waren Fragen, die auch die 'letzten Dinge' betrafen. Es ging darum, wo die Kinder herkommen und wo man hingeht, wenn man stirbt. Es ging um das Verhältnis zu den kommenden Generationen und den Ahnen, mit denen man in Kontakt bleiben wollte. Je mehr Informationen man hatte, desto besser! Dass man zu viele Informationen bekommen könnte, war damals noch völlig ausgeschlossen.

Obwohl Alle in einer solchen Steinzeit-Gruppe zusammen aufgewachsen waren und die gleichen Interessen teilten, war man zwar nicht immer einer Meinung und stand durchaus auch in Konkurrenz, z.B. um die schönsten Frauen. Aber in den wesentlichen Dingen war man sich einig. Das wurde schwieriger, als die Gruppen immer größer wurden. So kam es nach dem Sesshaft-Werden oft zu Abspaltungen von Fürsten oder Städten, zu ernsthaften und dauerhaften Konflikten innerhalb der Gruppen also. Konflikte zwischen einzelnen Gruppen waren ja schon immer an der Tagesordnung gewesen.

Überspringen wir ein paar Jahrtausende und kommen zum Protestantismus, sehen wir, dass er ein zweischneidiges Schwert war. Auf der einen Seite ermöglichte er es Fürsten, sich von Rom und unter Umständen auch vom Kaiser unabhängig zu machen. Gleichzeitig wurde es aber auch schwieriger, die eigenen Untertanen davon zu überzeugen, diesem Beispiel nicht zu folgen (nach der Devise 'Quod licet Jovis, non licet bovis' - 'Was dem König der Götter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt'). Bauernaufstände und die Insubordination der englischen 'Independenten' (Oliver Cromwell sollte als einer der Ihren auch einen König von England enthaupten) waren eine Nebenerscheinung. Parallel dazu wurde die Kommunikation durch den Buchdruck verbessert. Auch diese Erfindung war zweischneidig, Sie ermöglichte es, sich von Dingen ein eigenes Bild zu machen. Sie machte aber auch größere Teile der Bevölkerung zugänglich für Lügen, Mythen und Propaganda. Sie konnte der Befreiung aber auch der geistigen Knechtung dienen. So verbreitete sich in der Neuzeit auch der Mythos von Hexern und Hexen rasant in Europa und forderte Abertausende an Menschenleben!

Das Phänomen des Postfaktischen steht auch in engem Zusammenhang mit dem Begriff der 'Kommunikationsblase' oder dem 'bubbling', der Blasenbildung. Das heißt: man kommuniziert nur noch mit Leuten und besucht nur noch Plattformen und Medien, von denen man weiß, dass sie die eigene Meinung unterstützen. Das ist zum Einen eine Reaktion auf die verwirrende Vielfalt an Informationen, die auf einen einströmt und die man irgendwie ordnen muss. Jetzt könnte man sie nach dem Wahrheitsgehalt filtern. Aber das ist schwierig, weil dieser für den Durchschnittskonsumenten meist nicht einschätzbar ist. Sie danach auszuwählen, welche einem in den Kram passen, ist dagegen simpel und umsetzbar. Zudem ist es bequem, weil man die Meinung, die man bereits hat, nicht mehr in Frage stellten muss, was ja eben so unangenehm ist, wie die Figur in Frage zu stellen, die man hat! So wie die Evolution uns eingeimpft hat, die Aufnahme vieler Kalorien in Form von Zucker und Fett als angenehm zu empfinden und den Verlust derselben als unangenehm, so hat sie uns auch gelehrt, Menschen zu mögen, die unsere Meinung teilen und uns in ihr bestärken. So erlebten wir es ja Jahrtausende lang an den Lagerfeuern Afrikas! Und wir sind damit gut gefahren. So hörten auch Fürsten lieber auf Schmeichler als auf Kritiker (was der arme König Lear teuer bezahlen musste) und wohl dem, dessen Hofnarr kein Blatt vor den Mund nahm!

 

Das 'bubbling' schafft also einen behaglichen Raum, ein Lagerfeuer, an dem wir uns wärmen, mit Gleichgesinnten austauschen und vor Raubtieren sicher fühlen können. Innerhalb einer solchen Blase werden dann Informationen von außen nicht mehr zur Kenntnis genommen. Sie sind Löwengebrüll und Hyänengeheul oder die Geschichten anderer Gruppen, die mit unseren Ahnen und Nachkommen nichts zu tun haben, ihnen vielleicht sogar das Wild abgejagd haben oder abjagen werden. So ermöglicht es uns, in jenen vermeintlich seligen Urzustand zurückzukehren, in jenes verlorene Paradies, aus dem die Geschichte unsere Vorfahren vertrieben hat. Darin liegt sein Reiz! Es verführt uns aber auch zu unkritischem Denken gegenüber dem, was Leute erzählen, die behaupten, unsere Freunde zu sein! Und wenn diese 'Freunde' uns dann erzählen, x oder y sei eine Hexe? Jenseits aller Moral sollten wir uns aus Eigeninteresse nicht verführen lassen und uns unsere Freunde sorgfältig auswählen! Dazu kann es dann auch schon einmal nötig sein, in der Mittagspause mit seinen Kollegen zu sprechen, anstatt mit seinen 'Freunden' im Netz. Auch wenn diese Kollegen nicht immer unserer Meinung sind - vielleicht haben sie etwas zu sagen, dass uns zwar nicht schmeckt, aber einmal nützlich sein könnte. Die Alternative ist, dass man in seiner eigenen Blase, auf Gedeih und Verderb, stecken bleibt und mit ihr aufsteigt oder untergeht. 

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