Wie Volker Weiß in seinem 2011 erschienenen Buch „Deutschlands neue Rechte“ im Zusammenhang mit Thilo Sarrazin aufzeigt, ist der Typus des „Rufers in der Wüste“ ebenso wenig neu wie der des Untergangspropheten im konservativen Milieu. Geschickt ist dabei vor allem das Spiel von Distanz und Zugehörigkeit des Propheten im Verhältnis zu seinen Adressaten. Um zur Gattung des Propheten zu gehören, ist Distanz unabdingbar! Denn, um etwas zu sagen zu haben, das es sich anzuhören lohnt, muss Einen von seinem Publikum ja irgendetwas unterscheiden. Man braucht eine höhere Warte, einen besseren Überblick, wie Nietzsche, der dichtete: „Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke| Ziehe ich meines Weges, Sonne bald, bald Wolke| Doch immer über diesem Volke.“. Ohne das Moment der Zughörigkeit aber wäre die Vertrauenswürdigkeit des Propheten fraglich.
Dadurch, dass er sich zum gleichen Volk zugehörig fühlt wie seine Zuhörer, wie auch immer dessen Gemeinschaft definiert, wodurch sie auch immer zusammengehalten wird, macht er glaubhaft, dass die Überbringung seiner Neuigkeiten auch seinem Interesse dienen. Bei Nietzsche ist es gerade interessant, dass er es lieber vorgezogen hätte, kein Deutscher zu sein. Aber gerade dadurch, durch diese seine scheinbare 'Unzeitgemäßheit' scheint er zeitgemäß gewesen zu sein, in einer Zeit, zu der viele Deutsche nicht gehören wollten oder zumindest vorgaben, nicht dazu zu gehören. Die Neurasthenie grassierte ja zu jener Zeit als teilweise reale, teilweise eingebildete Modekrankheit, die aus der scheinbaren Unmöglichkeit der geforderten ungeheuren Anpassungsleistungen des Individuums an die industrialisierte Welt erwuchs. Diese Anpassungsleistungen waren dabei zumindest bei den Bessergestellten mehr ideeller als medizinischer Natur. Die Arbeiterkinder litten schlicht an Rachitis, weil sie das Tageslicht nicht sahen und das Vitamin B12 noch nicht entdeckt war, wie die Seeleute früherer Zeiten an Skorbut litten, weil man das Vitamin C nicht kannte. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Viele das Gefühl hatten, nicht in diese Zeit zu passen und jedenfalls nicht hineinpassen wollten.
Das Problem mit neuen Zuständen ist nämlich, vorausgesetzt, dass die Veränderungen schnell genug vonstatten gehen, dass die Maßstäbe, mit denen man diese Veränderungen einschätzt und bewertet, die der vorangegangenen Epoche sind. Nun gibt es zwischen den Epochen keine festen Grenzen und die Werte einer Epoche widerstreiten nicht immer denen der vorangegangen. Etwas findet sich in jeder immer, worauf die Veränderungen beruhten. So hängen auch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und die Industrialisierung irgendwie zusammen. Dieser Zusammenhang ist aber keineswegs offensichtlich und leuchtet bei weitem nicht sofort und schon gar nicht Jedem ein!
Das Moment der Kontinuität wird von den Fortschrittsgläubigen wie den Positivisten besonders betont, die im 19. Jahrhundert Konjunktur hatten. Allen voran sind hier Auguste Comte und William James zu nennen. Dabei unterscheiden sich die Vertreter dieser Richtung durchaus in der Radikalität ihrer Aussichten auf die Geschichte als Ganzes und die Zukunft im Besonderen. Für Comte gehört die Religion einer Stufe in der Entwicklung der Menschheit an, die im 19. Jahrhundert gerade überwunden wurde, weshalb die Religion auch nicht mehr lange Bestand haben würde.
Aus dieser Position entwickelte sich später unter anderem die Säkularisierungsthese, wonach die Welt immer weltlicher und die Religion eine immer geringere Rolle spielen würde. Diese These wird mittlerweile in ihrer Absolutheit angezweifelt. Allerdings kann sie nicht ganz verworfen werden, weil die Phänomene, die als Gegenargument angeführt werden, nicht unbedingt als vorbehaltlos religiös betrachtet werden können. In vielen Fällen könnte es sich eher um eine religiöse Verpackung handeln, die Events oder Musik übergestülpt wird, ohne dass ihre Rezipienten 'wirklich' eine religiöse Handlung vollziehen. Hierbei stellt sich freilich wieder die Frage, was unter einer 'wirklich' religiösen Handlung zu verstehen sei.
Edward Burnett Tylor hingegen betrachtet die Religion nicht als Auslaufmodell. Im Unterschied zu Auguste Comte versteht er die Geschichte nicht als einen Prozess der Verdrängung alter Formen durch neue sondern als einen der Sedimentierung, bei der neue Formen zu alten hinzukommen, die Wissenschaft sich also möglicherweise neben die Religion gesellt, anstatt sie zu ersetzen - ganz eindeutig ist sein Verhältnis zur Religion jedenfalls ebenso wenig wie das Darwins, der seine Theorie von der Entstehung der Arten in keinerlei Widerspruch zur Religion stehen sah!
Es gibt aber neben diesen positiven Einstellungen gegenüber der Moderne auch diejenigen, die sie kritisieren oder ihr entkommen wollen. Zu dieser sehr heterogenen Gruppe gehören neben den Romantikern des frühen 19. Jahrhunderts auch Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder Spiritisten wie Arthur Conan Doyle. Während Kritik an der Moderne ein Versuch ist, sie sich selbst anzupassen, ist Entkommen die Konsequenz der (eher falschen) Einsicht in die Unmöglichkeit der Anpassung an diese Umwelt. Allerdings lassen sich die Positionen der Skeptiker der Moderne nicht so einfach in diese beiden Kategorien pressen. Ihr Verhältnis zur Moderne ist, ähnlich wie das islamistischer Terroristen, durchaus ambivalent und komplex.
Weiß konstatiert Sarrazin, wie anderen modernen Propheten auch, die Pose des Verfolgten einzunehmen, ohne es zu sein. Sarrazin behauptete angesichts der Kritik an seinen Äußerungen, es solle ein Diskurs unterdrückt werden, und bemühte in diesem Zusammenhang sogar den Vergleich mit der heiligen Inquisition! In der heutigen Zeit sei es laut Weiß aber unmöglich, einen Diskurs zu unterdrücken, worin man ihm nur zustimmen kann. In diesem Zusammenhang kam dann auch die „Das wird man ja noch sagen dürfen“-Phrase auf, die jede Kritik als Form der Verfolgung auffasst. Diese Haltung findet sich übrigens auch bei Trump! Man könnte sogar sagen, dass Trump sie weiterentwickelt, wenn nicht perfektioniert habe, wobei er sie gar nicht mehr auszusprechen braucht. Er sagt einfach, was er will.
Will man verstehen, woher diese Haltung des verfolgten Propheten kommt, muss man in die Neuzeit zurückgehen, ins 15. und 16. Jahrhundert, als die heilige Inquisition tatsächlich Bücher auf den Index setzte. Allerdings hatte das auch schon damals eine eher verkaufsfördernde Wirkung! Wollte man, dass ein Buch sich rasend schnell verbreitete, musste man es nur auf den Index setzen lassen. Druckereien in Venedig, das sich nie um die Curie geschert hatte, und Amsterdam, das vom 16. Jahrhundert an ohnehin protestantisch war, rissen sich geradezu darum, Europa mit indizierten Büchern zu überschwemmen (zumindest für damalige Verhältnisse)! Warum war das so?
Die Kirche galt seit langem nicht nur als Hüterin des wahren Glaubens sondern auch als Verhinderin des Fortschritts. Die meisten ihrer Banne, wie der gegen den Schnabelschuh, den sie für islamisch und damit ketzerisch hielt, oder den gegen die Armbrust, die sie für inhuman hielt, wurden allerdings allgemein ignoriert wie die Prohibition in Amerika. War die Kirche also gegen etwas, so konnte man sicher sein, dass es gerade zumindest in Mode war und man ebenfalls, wenn man es besaß. Im günstigsten Fall war es sogar nützlich im Sinne von 'profitabel' oder 'siegbringend' wie Zinsen oder Feuerwaffen. In einem von der Kirche verbotenen Buch war also vermutlich etwas sehr Vorteilhaftes, Fortschrittliches oder Modisches, um nicht zu sagen 'Modernes' zu lesen! Also sollte man es sich unter dem Ladentisch besorgen, wenn man auf der Höhe der Zeit sein wollte!
Dieser Reflex des Verdachts, dass etwas, das von 'höherer Stelle' verboten oder unterdrückt werde, für uns von Vorteil sei, funktioniert offenbar noch heute! Man findet ihn sehr schön in Monty Pythons 'Das Leben des Brian' kolportiert, wo der Protagonist versehentlich durch eine morschen Balkon auf einen 'Propheten' stürzt und nun die Rolle des Propheten spielen muss, um den allgegenwärtigen römischen Soldaten nicht aufzufallen. Als die Gefahr vorbeigezogen ist, bricht er seinen Vortrag von Sprichwörtern (eigentlich der Bergpredigt entnommen) unvermittelt ab, woraufhin seine Zuhörer vermuten, er kenne das Geheimnis des ewigen Lebens und wolle es nicht mit ihnen teilen. Sie verfolgen ihn daraufhin bis weit vor die Stadt, ausdrücklich gerade weil er leugnet ein Prophet zu sein und das Geheimnis des ewigen Lebens zu kennen! „Wenn ich das Geheimnis des ewigen Lebens kennen würde, würde ich es auch nicht verraten!“, ruft einer seiner Zuhörer aus.
Im Mittelalter und in der Neuzeit war dieser Verdacht in der Regel auch begründet, weil die Instanzen, die Zensur betrieben, tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen verhindern wollten, die die Grundlagen ihrer eigenen Macht, ihres Wohlstandes und, so glaubten sie sicher aufrichtig, der einzigen Ordnung der Gesellschaft untergraben würden, die diese vor dem Sturz ins Chaos bewahre. Damals zählte man, wie man im Nachhinein feststellte, zu den Dummen, wenn man der Obrigkeit Glauben schenkte. Das war natürlich nur einer kleinen, gebildeten Elite klar. Einer breiteren Masse leuchtete die Dummheit ihrer Vorfahren erst nach dem zweiten Weltkrieg und vor allem im Zuge der 68er-Bewegung auf. Heute haben wir zwar (zumindest die meisten von uns) alle Freiheiten errungen, von denen unsere Vorfahren träumten, während sie die Obrigkeit zu recht verdächtigten, sie dumm halten zu wollen. Wir fürchten uns aber, nachdem wir die Ahnungslosigkeit unserer Altvorderen erkannt haben, immer noch zu den Dummgehaltenen zu gehören. Wir vermuten, dass das, was selbsternannte Verfolgte verkünden, die Wahrheit von morgen sein könnte und wir morgen die Dummen wären, wenn wir glauben würden, was die 'Mainstream-Medien' verkünden. Also kaufen wir die 'Wahrheiten' dieser verfolgten Propheten lieber schnell!
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