Was ist bloß mit Erdogan los? Natürlich ist sein Ego angekratzt. Das kommt davon, wenn man in einer Seifenblase lebt, in der einen die eigenen Anhänger behandeln wie den "Schatten Gottes auf Erden". Ein bisschen Nero-Komplex ist auch dabei, wenn Präsident Erdogan auch nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. Ihm ist der erworbene Ruhm zu Kopf gestiegen, nicht der angeborene. Unweigerlich kommt man bei einer Karriere wie der seinen auf den Gedanken, Gott müsse es besonders gut mit einem meinen, einen vielleicht sogar auserwählt haben (wie Hitler sich auch für auserwählt hielt und sich Trump für genetisch überlegen hält)! Das passiert gerade dann besonders schnell, wenn man diesen Aufstieg einer Art "Bündnis mit Gott" verdankt, weil man versprochen hat, die Türkei zu islamisieren. Aber da kommt noch einiges Anderes hinzu.
Ich möchte nicht die sehr klugen Analysen wiederholen, die zu diesem Thema bereits veröffentlicht wurden. Sie alle ordnen Erdogans Verhalten intelligent in das politische Tagesgeschehen und die jüngere Vergangenheit ein. Mich interessiert eher der historische Rahmen, in dem die Affäre Erdogan stattfindet. Dabei ist die biographische Dimension nicht zu vernachlässigen. In Erdogan trifft, wie in jedem charismatischen Staatsmann, ein außerordentliches Ego auf eine außerordentliche historische Situation. Zeitgeschichtlich steht Erdogan Trump insofern nicht fern, als beide es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Es ist erstaunlich und ein Symptom der Globalisierung, dass beide so ähnliche Taktiken verfolgen.
Im Fall Erdogans kommt allerdings noch hinzu, dass er Teil eines Ringens ist, das historisch weit zurückreicht. Es beginnt spätestens mit der Machtergreifung Mustafa Kemals, genannt Atatürk, der aus der Türkei einen modernen Staat westlicher Prägung machen wollte. Dabei konnte er, wie sein Personenkult zeigt, die vorder-orientalische politische Tradition nicht über Nacht abschütteln, auch wenn er bemerkenswert erfolgreich war. Atatürks Reformen waren insofern paradox als sie zu ihrer Umsetzung der Machtfülle eines Sultans bedurften. Zu Atatürks Zeit stand er mit dieser herausragenden Position auch nicht in besonders großem Widerspruch zu Europa, zumindest nicht zu Europa östlich des Rheins (oder wie Francis Fukuyama in 'The Origins of Political Order' nennt: östlich der Elbe). Aber auch in Amerika hatte der Reformer Theodore Roosevelt eine beinahe überlebensgroße, allerdings durch demokratische Ironie gebrochene, Statur erreicht.
Seit Atatürk geriet das politische Gleichgewicht in der Türkei mehrmals aus den Fugen, was unter anderem zu drei Militärputschen führte, der letzte 1980. Ursache war vor allem die schlechte wirtschaftliche Entwicklung, die in der Türkei regelmäßig dazu führte schwelende Konflikte zwischen Rechten und Linken, Progressiven und Traditionalisten, Stadt und Land, Türken und Kurden usw. in offene Gewalt ausarten zu lassen. Vor Erdogan schien die Türkei sich endgültig in Richtung Europa zu entwickeln, zumal sie Anstrengungen unternahm, ihre Gesetze EU-konform zu machen. Die türkische Gesellschaft ist aber sehr viel heterogener, als es nach außen hin den Anschein hat. So wird jedes Ungleichgewicht von einem politischen Akteur genutzt, um die Oberhand zu gewinnen. Dieser Akteur ist nun, nachdem die Türkei die Rolle der Armee geschwächt hat, um die Forderungen der EU zu erfüllen, der politische Islam, repräsentiert von Erdogan und der AKP.
Ähnlich wie im Fall Griechenlands und Italiens liegt eine der Haupt-Ursachen der Probleme der Türkei darin, dass es demokratisiert (oder zumindest republikanisiert) wurde, bevor es industrialisiert wurde. Die Türkei war unter Atatürk lediglich teil-industrialisiert. So fehlte eine ausreichend große Mittelschicht, aber auch ein ausreichend großer Wohlstand, um einen gut funktionierenden demokratischen Staat dauerhaft und stabil zu tragen. Dieses Problem hatte die Türkei aber mit Deutschland durchaus gemeinsam, das zwar stärker industrialisiert war, in dem der Wohlstand aber auch nicht gerechter verteilt war. Darin mag einer der Gründe dafür liegen, dass die NSDAP so viele 'Raubritter' anzog, die sich skrupellos auch an der eigenen Bevölkerung bereicherten, wie Hitler (der sich zeitlebens weigerte, seine Steuerschulden zu zahlen) und Göring (dessen unverhohlene Gier allgemein bekannt war und ist). Diese fehlende Gerechtigkeit in der Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands änderte sich mit dem 'Rheinischen Kapitalismus' nach 1949. In der Türkei fand eine solche Wende nicht statt. Auch wenn sich die Wirtschaft in der Türkei im zurückliegenden Jahrhundert entwickelt hat, profitierten die Teile der Gesellschaft doch ungleich davon. Außerdem steht dieses Wachstum auf wackeligen Beinen. Der stimmungsabhängige Tourismus, dem der kurdische wie der islamistische Terrorismus zugesetzt haben, macht z.B. einen großen Teil des Bruttoinlandsproduktes aus.
Das andere große Problem der Türkei ist ideeller Natur. Wie alle Länder, die sich westlicher Lebensart und westlichen Standards anzupassen versuchen, führen diese Veränderungen zu inneren und äußeren Spannungen. Es kratzt am Selbstverständnis, wenn man seine Identität wechseln und alte Traditionen infrage stellen muss, um so mehr, je ferner diese Tradition der eigenen erscheint. In Deutschland wurde dieser Prozess eigentlich erst von der '68er-Bewegung angestoßen, obwohl die demokratische Tradition dem selben Kulturkreis entstammte, dem auch Deutschland sich zugehörig fühlte.
Ein solcher Prozess ist schmerzhaft. Und man braucht starke Anreize, um ihn durchzuführen. Da wir Alle aus Fleisch und Blut sind, müssen solche Anreize, wenn sie auf breiter Basis stehen sollen, materieller Natur sein. Hier greifen ideelle und materielle ebene ineinander. Die Beharrungskraft der Identität muss mit materiellen Anreizen überwunden werden. Dabei kann es um eine Verbesserung des Lebensstandards gehen oder um das nackte Überleben. Deutschland erfuhr nach dem Krieg beides, da es mit seiner Wirtschaft rasant bergauf ging und die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg und dem Warschauer Pakt dem Reformwillen zusätzliche Flügel verlieh!
Die Türkei durchlief kein so günstiges historisches Schulungsprogramm. So erscheint die Rückbesinnung auf eine Struktur, die doch in der Vergangenheit so gut funktionierte, naheliegend. Diese Vergangenheit ist nicht nur das Sultanat. Auch Atatürk dient als Bezugsperson. Atatürk hatte nur den Makel, dass er nicht religiös war und zudem Militär. In ihm regierte gewissermaßen das Militär immer mit. Beruft man sich auf Atatürk, ist also nicht klar, ob man sich auf den Demokraten Atatürk beruft oder auf den Militär Atatürk.
Erdogan geht es nun darum, der Türkei quasi mit politischer und polizeilicher (weniger militärischer) Gewalt Stabilität zu verleihen. Die Entwicklung in den letzten Jahren, vor allem der Putschversuch im letzten Jahr, haben ihm dazu unverhoffte Rückendeckung gegeben. Auch die Flüchtlinge, die er als Unterpfand im Land zurückhält, helfen dabei. Er läuft gegen die Zeit. Denn diese Umstände könnten sich jederzeit wieder ändern. Darum muss sein Coup jetzt gelingen oder nie! Erdogan setzt alles auf eine Karte. Er ist von Sendungsbewusstsein erfüllt. Die Sultane betrachteten sich als 'Schatten Gottes auf Erden'. Fremde Länder waren noch nicht unterworfene Länder, deren Gesandten bloße Bittsteller (nicht anders agierten die chinesischen Kaiser). Erdogans Sendungsbewusstsein ermöglicht es ihm nun, diese alten Zeiten diplomatisch (oder genauer: undiplomatisch) wieder aufleben zu lassen, auch wenn das dazu führt, dass sein Ton nicht zu seiner Position im internationalen Gefüge der Staatsmänner passt. Man muss auch bedenken, dass der Begriff 'Nazi' in der Türkei nicht den gleichen vernichtenden klang hat wie im Westen Europas. In der Türkei gibt es viele Hitler-Verehrer. Zudem ist Erdogans Geschichtsbewusstsein wie das seiner Anhänger mäßig ausgeprägt. Er ist von Hause aus Innen-Politiker, kein Historiker, nicht einmal Diplomat.
Europa ist an Erdogan nicht unschuldig (das soll nicht heißen, er wäre eine Art Krankheit). Wie die Amerikaner dachten, die Demokratie käme mit ein paar Federstrichen, sobald Saddam Hussein gestürzt sei, dachte die EU, die Türkei würde aufnahmereif werden, wenn man ihr genug Zeit lässt, ihre Hausaufgaben zu machen. Der Weg nach Europa ist aber eben kein Automatismus! Man hatte unterschätzt, wie schwer der Weg nach Europa für die Türkei war, und gefordert aber zu wenig gefördert. Man hatte auch gedacht, Mitglied der EU zu sein, sei Anreiz genug, ein Anreiz, der leicht ein Jahrhundert lang vorhalten würde. Das war arrogant. Wir müssen aufhören, an Automatismen zu glauben. Man kann nicht alles vorhersehen. Syrien war unvorhersehbar! Aber man darf nicht glauben, alles bleibe, wie es ist, oder laufe von selbst auf dem einmal eingeschlagenen Kurs weiter! Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht zu beenden sondern auf Eis zu legen ist indes richtig. Denn die EU hat kein Problem mit der Türkei, sondern mit Erdogan. Auch wenn sich Beides nicht völlig voneinander trennen lässt, ist ein Aussetzen doch der angemessene Kompromiss. Das entscheidende in der gegenwärtigen Situation ist jedenfalls, dass man nicht so sehr auf die anstehenden Reformen der Verfassung fokussieren sollte. Es gibt weltweit eine große Bandbreite demokratischer Verfassungen und institutionelle Konstrukte. Eine präsidiale Verfassung ist nicht per se undemokratisch. Was die Türkei entwickeln muss ist eine starke Wirtschaft und eine gerechtere Gesellschaft. Nur eine wohlhabende und gerechte Gesellschaft trägt eine funktionierende Demokratie. Fehlt diese Basis, nutzt die schönste Verfassung nichts! Und in der Türkei fehlt sie seit 100 Jahren.
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