Neuer Widerstand

Woher kommt es, dass heutzutage so viele Menschen sich vom Staat abwenden, gegen ihn protestieren, wie die Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung, sich manchmal sogar bewaffnen und ihren eigenen Staat ausrufen wie die Reichsbürger?

 

Das Phänomen der Reichsbürger ist neu. Aber seine Wurzeln sind uns vielleicht bekannter, als wir denken. In den 90er Jahren warnte der Soziologe Samuel Huntington in seinem Buch „Clash of Zivilisations“ davor, dass nach dem Ende des kalten Krieges die Religion das Vakuum ausfüllen würde, das die Ideologien hinterlassen haben. Kriege und gewalttätige Konflikte, so Huntington, würden in Zukunft nicht mehr dort ausbrechen, wo Ideologien, sondern dort, wo Religionen aufeinander stoßen. Mit seiner Prognose hatte er z.B. im Fall der Ukraine Recht, wo russische Orthodoxie auf die Unierte Kirche des Westens der Ukraine stößt.

 

Huntington hatte Recht, wenn man sich die Landkarte anschaut. Dass es einen Anschlag auf die USA selbst geben würde, hat er nicht vorhergesehen. Gerade in der islamischen Welt ist das mit dem „Aufeinandertreffen“ der Religionen so eine Sache. Die USA grenzen eigentlich an kein islamisches Land. Da aber ihre Interessen grenzenlos sind und Angehöriger aller Religionen der Welt innerhalb ihrer Grenzen beherbergen, treffen sie zwangsläufig auf alle Religionen.

 

Eine weitere, neuere Entwicklung hat Huntington nicht vorhergesehen: die Privatisierung und Fragmentierung von Identität. Dabei ersetzen die neuen Formen nicht einfach die alten. Es ist wie bei allen Prozessen: das Neue setzt sich an die Seite des Alten. Manchmal verdrängt das Neue das Alte vollständig. Manchmal bricht es nur dessen Monopol. Ein einfaches Beispiel sind die Deutsche Post und die Telekom, die heute mit einer Vielzahl privater Anbieter koexistieren, während sie im letzten Jahrhundert als Deutsche Post ein Kommunikations-Monopol besaßen.

 

Es ist relativ einfach: Menschen, die sich mit ihrer eigenen Regierung nicht identifizieren können, wären in den 70ern oder 80ern wohl Marxisten geworden. Heute steht ihnen eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Verfügung, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen und ihn zu leben. Sie können dies nach wie vor ideologisch oder religiös tun. Manche Optionen sind gewalttätig bis zum Mord, manche friedlich bis schrullig. Sie können sich einer Sekte anschließen, Neo-Nazis, Links-Radikale, Anarchisten, erzkonservative Christen oder radikale Muslime werden. Sehr beliebt ist auch die zeitlich begrenzte Anarchie, die die Hooligans leben. Als harmlosere Fluchtpraxis kann man sich in einem Online-Game einem Clan anschließen oder bei einem Death-Metal-Konzert in Trance headbangen.  

 

Wir alle sind mittlerweile aufgefordert, flexibel zu sein und uns ständig neu zu erfinden. Manche empfinden das als Belastung oder Überforderung, Andere als Chance und Freiheit. Zu dieser Neu-Erfindung stehen uns immer mehr Mittel und Wege zur Verfügung. Was für die Freizeit oder den Beruf gilt, gilt eben auch für die für uns im Grunde so wichtige Frage der Identität. Und so, wie man früher nicht immer aus Überzeugung in der Sache gegen alles war, was der politische oder religiöse Gegner tat oder vorschlug, sondern oft aus „ideologischen Gründen“ (was man ja immer noch gerne dem politischen Gegner unterstellt), so sind auch nicht alle, die gegen eine Maßnahme der Regierung demonstrieren, tatsächlich gegen diese Maßnahme selbst sondern gegen die Regierung, die sie ergreift.