Dieses Buch befand sich wochenlang auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste (jetzt auf Platz 2) - in den USA. In Deutschland hat die Übersetzung „Wir müssen über Rassismus sprechen“ es bislang nicht unter die Top 100 geschafft. Ein weiteres Zeichen dafür, wie tief der atlantische Graben mittlerweile geworden ist, dass in Deutschland Rassismus nicht von einer breiten Masse als Problem wahrgenommen wird oder für den guten Geschmack der Deutschen, was Bücher anbelangt und die Verführbarkeit der Amerikaner? Für letzteres spricht, dass dieses Buch schon in den USA fast durchweg schlechte Kritiken erhalten hat. Auf DiAngelos Seite selbst finden sich nur drei positive Kritiken, zwei von anderen Autoren und eine von einem Magazin für Schulbildung – wahrscheinlich die drei einzigen positiven, da alle größeren Zeitungen bislang nur Verrisse veröffentlichten.
Die deutsche Amazon-Bestseller-Liste führt hingegen ein Corona-Faktencheck an, gefolgt von einem Kinderbuch, das inneres Wachstum verspricht, und einem Buch für Erwachsene, das Freundschaft mit dem ‚inneren Kind‘ als Lösung „(fast) aller Probleme“ anpreist, vor allem aber zum Schlüssel für gelungenere Beziehungen. Auf den ersten Blick sind die Deutschen demnach eher von der Coronakrise ganz in ihren Bann gezogen. Sie wollen alles über die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen wissen, sind um die Erziehung ihrer Kinder besorgt, die sie nicht mehr ohne Weiteres an die Schulen delegieren können, und möchten nun auch mit ihrem inneren Kind Kontakt aufnehmen, vielleicht auch an der Qualität der verbliebenen, durch die Selbstisolierung der Frühlingsmonate auf eine Probe gestellten Beziehungen arbeiten. Rassismus scheint hier jedenfalls ebenso wenig weit oben auf der Tagesordnung zu stehen wie Umweltschutz. Die Spiegel-Bestseller-Liste bestätigt diesen Eindruck. Mit Prechts „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“, Schirachs und Kluges „Trotzdem“, das sich ebenfalls mit der Zeit nach dem „Shutdown“ beschäftigt und „Unsere Welt neu denken“ von der Ökonomin Maja Göpel richten die Deutschen ihren Blick fest in die Zukunft nach Corona und wollen wissen, was sich ändern muss und was bleiben darf.
Rassismus spielt dabei aber scheinbar gar keine Rolle, Umweltschutz vor allem unter dem ökonomischen Aspekt. Vielleicht sehen wir uns nicht als rassistisch. Aber das ist Thema einer eigenen Untersuchung, vielleicht einer Untersuchung, die jeder selbst anstellen muss.
Im Gegensatz zu den Deutschen haben die Amerikaner die dunkeln Seiten ihrer Geschichte bislang nicht in breiter Öffentlichkeit aufgearbeitet. Ja, es gab eine Bürgerrechtsbewegung von den 60er Jahren bis heute. Aber der Süden der USA hat sich selbst dabei immer herausgenommen und nie in Gänze zu ihrer historischen Schuld bekannt. Der Norden hat es ihnen auch nicht leicht gemacht, hat er sie doch nach dem Bürgerkrieg 1861-65 systematisch diskriminiert und ausgeraubt, was es den Weißen im Süden erleichterte, sich trotz all der Gewalt gegen Schwarze, die nach dem Ende der Sklaverei in verwandelter Form wieder aufflammte, als Opfer zu sehen.
Ähnlich wie in Deutschland den AfD-Anhängern hängt in den USA das, was sie als „Political Correctness“ bezeichnen zum Hals raus. Man kann darin eine Abwehrreaktion gegen einen unvermeidbaren
Prozess sehen, der auf eine gerechtere Gesellschaft hinausläuft und an Gewohnheiten und vielleicht auch Pfründen rührt, die viele nicht gerne aufgeben wollen.
Worauf sich DiAngelo konzentriert, ist allerdings die Abwehrreaktion, die ihr entgegenschlägt, wenn sie in ihren Workshops, die sie für Unternehmen durchführt, die Teilnehmer mit deren eigenem Rassismus konfrontiert. Das Problem ist nur: DiAngelo ist selbst weiß und hat Rassismus nie am eigenen Leib erfahren. Ihre Haltung ist die einer linken intellektuellen Sozialwissenschaftlerin, die sich als Kämpferin für Gleichberechtigung von Frauen und Farbigen in Szene setzt. Leider kommen im ganzen Diskurs über ihr Buch keine Zeugen zu Wort, so dass wir nur DiAngelos Theoriekonstrukt haben, das uns versichert, dass jede/r Weiße auch ein/e Rassist/in ist. Und wer das nicht zugibt, ist sich dessen nur nicht bewusst. Das bringt ihr mitunter den Vorwurf ein, Scientology-Methoden zu verwenden oder eher eine Bekehrerin zu sein als eine Aufklärerin.
Dass man wütend reagiert, wenn man als Rassist bezeichnet wird, verwundert nicht. Aber DiAngelo beruhigt: es handle sich um ein Missverständnis. Rassismus sei nämlich keine individuelle, moralische Eigenschaft sondern ganz normal, wenn man Teil eines rassistischen Systems sei. Wer mit der Theorie des Rassismus nicht vertraut ist, kann DiAngelos Buch dennoch einige interessante Informationen übernehmen, die sie von anderen Gelehrten entlehnt. Allerdings insistiert die Autorin sehr darauf, dass Rassismus ein System sei, in dem Weiße profitieren. Daraus folgt dann, dass man, wenn man weiß ist, auf der Profiteur-Seite der Gesellschaft steht. Leider macht einen dass für DiAngelo dann auch schon zum Rassisten in diesem ‚systemischen‘ und eben nicht-moralischen Sinn von Rassismus.
Während diese Unterscheidung zwischen Rassismus als individueller moralischer Akt, der einen als bösen Menschen kennzeichnet, und Rassismus als Teilhabe an einem System, das Menschen mit dunkler Hautfarbe benachteiligt, für Intellektuelle zur Steilvorlage für ihre Kritik wird, ist sie aber vielleicht für den amerikanischen Durchschnittsleser gerade verlockend, was auch den Erfolg des Buches zum Teil erklären würde. Denn zum einen mache ich mich keiner moralischen Verfehlung schuldig, ich bin kein schlechter Mensch, wenn ich über Schwarze Vorurteile habe oder mir der Vorteile nicht bewusst bin, die das rassistische System mir verschafft, in das ich geboren wurde. Schuld bin nicht ich. Schuld ist die Sozialisation, die die Amerikaner laut DiAngelo erzogen werden, nicht anzuerkennen. Stattdessen werden sie vom Individualismus darauf gedrillt, Erfolg und Misserfolg auf genetische Veranlagung oder Leistung zurückzuführen. Daraus ergebe sich dann, dass Schwarze weniger erfolgreich seien, weil sie sich weniger anstrengten oder genetisch unterlegen seien. Ziel dieser Gehirnwäsche ist es, den Platz, den jeder in der Gesellschaft einnimmt, zu akzeptieren, den eigenen wie den der Anderen. Als Belohnung erhält man als Weißer Vorteile, derer man sich aber nicht bewusst sei. Hierin liegt die Crux des Buches.
Denn leider gelingt es DiAngelo nicht ausreichend die Kluft zwischen bewusstem Verhalten und unbewussten Strukturen überzeugend theoretisch einzufangen. Das verwundert nicht, ist sie als Coach doch in erster Linie Pragmatikerin. So erscheint es selbst gebildeten Lesern unplausibel, dass es eine „White Solidarity“ geben solle, wenn die meisten Weißen sich des real existierenden Rassismus nicht bewusst sein sollen. Nun, auch diese Solidarität ist eben unbewusst. Di Angelos Ansatz fehlen hier auch die Abstufungen. Natürlich gibt es Weiße, die sich ihres Rassismus bewusst sind. DiAngelo erwähnt sie auch, wenn es um die Unterschicht geht, die durch Rassismus geteilt und so politisch handlungsunfähig gemacht werden soll – ein klassisches Argumentationsmuster des Sozialismus und für Europäer nicht weiter erstaunlich. Aber fehlende Abstufungen sind nichts, was uns an einer amerikanischen Autorin überraschen würde. Es erscheint uns eher typisch amerikanisch und wird von der amerikanischen Kritik auch gar nicht angemerkt.
DiAngelo erwähnt Trump nur als politischen Profiteur der „White Fragility“, der „Weißen Zerbrechlichkeit“, womit die Zerbrechlichkeit dieser Maske des Selbstbetrugs gemeint ist, dass man sich nicht als Rassist sehe, aber vom systematischen Rassismus profitiere. Auf ihn trifft aber wie auf kaum einen Zweiten zu, dass er seinen Erfolg ganz und gar auf genetische Überlegenheit UND Leistung gründet (ohne dass eines von Beidem zuträfe).
An dieser Stelle bekommt man als Europäer den Eindruck, dass DiAngelo ganz einfach Sozialistin sei und das in den USA nur nicht offen sagen oder ausleben könne, da das dort ungefähr so akzeptiert ist wie Homosexualität in der Türkei. Die linken Intellektuellen der 60er und 70er Jahre in Deutschland und Frankreich krankten ja an der gleichen Weltfremdheit, aus der dann, gepaart mit Gewalt, die RAF hervorging. Fast alle stammten sie aus der Mittelschicht und hatten Arbeiter bestenfalls einmal auf der Straße getroffen. Und alle waren sie von Schriften, vor allem von Marx, die Philosophen auch von dessen geistigem Vater Hegel, beeinflusst.
Auch DiAngelo scheint der Wirklichkeit ihren theoretischen Sack überstülpen zu wollen. Und wenn das nicht funktioniert, ist es die Schuld der Wirklichkeit, nur das diese Wirklichkeit in diesem Fall aus Menschen besteht.
Ein letzter Kritikpunkt im Diskurs, den das Buch in den USA ausgelöst hat, ist, dass DiAngelo politische Proteste gegen Rassismus ablehnt, weil diese nur der Beruhigung des eigenen Gewissens dienten, und stattdessen für eine lebenslange Arbeit am eigenen Rassismus plädiert. Das wird ihr als Selbstquälerisch oder puritanisch ausgelegt. Ich will hier nicht darüber spekulieren, wieviel DiAngelos katholische Herkunft spekulieren, die das selbstquälerische Moment erklären könnte. Es ist ihr intellektuelles Recht, die vita contemplativa der vita activa vorzuziehen. Allerdings könnte man sich fragen, ob hier auch kapitalistische, soll heißen: finanzielle Interessen eine Rolle spielen könnten. Denn natürlich erscheint einem Anti-Rassismus-Coach eine Nation von Menschen, die versuchen, den Rassisten aus sich auszutreiben, durchaus verlockender als eine Nation von Menschen, die glauben, sich mit politischen Demonstrationen bereits auskuriert zu haben.
Letztlich sehe ich keinen Grund, warum man nicht das Eine tun sollte ohne das Andere zu lassen. Für Anti-Rassismus-Coaches gäbe es nicht weniger Klientel. Bei den Polizisten könnte man anfangen.