In der heutigen Zeit, gerade unter dem Eindruck der Corona-Krise und der Klimakatastrophe, stellt sich erneut die dringende Frage nach der Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft. In der Corona-Krise beschreitet beinahe jede Regierung einen anderen Weg bei der Bekämpfung des Virus. Dabei kann man die Regierungen danach unterscheiden, ob sie der Wissenschaft folgen oder nicht, und auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Ratschläge sie sich bei ihren Entscheidungen stützen. Dabei werden nicht nur tiefe Verwerfungen zwischen den Staaten sichtbar, sondern auch innerhalb der einzelnen Staaten. In den Vereinigten Staaten etwa folgen einige, meist republikanische Gouverneure, der Linie des Präsidenten und verzichten auf Maskenpflicht und Abstandsregelungen, während andere, meist demokratische, Gouverneure auf der Maskenpflicht bestehen. Doch auch innerhalb der einzelnen Bundesstaaten haben die Bürger z.T. sehr unterschiedliche Ansichten zur Frage der Eindämmungstaktik, welche von ihren politischen Überzeugungen kaum zu trennen sind. Sich für das Tragen einer Maske auszusprechen, bedeutet fast immer auch, sich gegen Trump zu erklären. Trump ist es gelungen, die Frage der Maskenpflicht von einer wissenschaftlichen zu einer politischen Frage zu machen.
In Europa zeigt sich ein etwas anderes Bild. Hier richten sich seit Beginn der Krise alle Regierungen nach wissenschaftlichen Ratschlägen. Dabei besteht nur ein Unterschied darin, nach welchen Ratschlägen man sich richtet. Die EU-Staaten unterscheiden sich im Wesentlichen nach der Schnelligkeit, in der sie reagiert haben. Auf die Wissenschaft haben sie indes alle gehört.
Auf die Wissenschaft nicht zu hören, bedeutet aber auch, auf etwas anderes zu hören. Was ist dieses Andere aber? Die Staaten, die ihm folgen, sind vor allem die USA und Brasilien, deren Präsidenten bestenfalls als Populisten, schlimmstenfalls als Autokraten bezeichnet werden. Sie geben sich als Freunde des Volkes und gelten als Freunde der Wirtschaft. Nicht der Wissenschaft zu folgen, heißt hier vor allem, den Interessen der Wirtschaft zu dienen, für die ein „Einfach weiter so“ am günstigsten ist und die Kollateralschäden, also Zigtausende von Toten akzeptabel sind, solange der Profit stimmt. Gegenüber ihrer Wählerschaft geben sie ihre Entscheidung gegen die Wissenschaft als Entscheidung für die Freiheit aus und bringen die Freiheit damit in ein schiefes Licht.
Im Juli 2020 ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Podcast des Kabarettisten Dieter Nuhr gelöscht worden, in dem dieser daran erinnert, dass es in der Wissenschaft nicht Wahrheit sondern Wahrheitssuche bedeute, und dass man seine Meinung ändere, wenn sich die Sachlage ändere. Das löste eine Welle der Empörung aus. Aber warum?
Seine Meinung zu ändern, gilt heutzutage merkwürdigerweise als ehrenrührig. Man bewundert Menschen, die an ihrer Meinung festhalten, komme was wolle. Dabei ist es doch eigentlich ein Zeichen der heute so viel geforderten Flexibilität und das Gegenteil von Beratungsresistenz, seine Meinung zu ändern, sofern das nicht grundlos geschieht sondern wohl begründet. Für die Präferenz einer breiten Öffentlichkeit für beharrliche Menschen gibt es zwei mögliche Erklärungen. Zum einen ist Beharrlichkeit seit Alters her eine Tugend. Diese moralische Wertschätzung hat sich noch nicht an die Moderne angepasst, in der vor allem die Wissenschaft in immer kürzeren Abständen neue Fakten zutage fördert. Eine andere Erklärung könnte sein, dass man den Begriff des ‚Umstands‘ falsch interpretiert, der ja für die Beharrlichkeit von zentraler Bedeutung ist. Denn Beharrlichkeit bedeutet ja, dass man einen einmal eingeschlagenen Weg beibehält, allen äußeren Einflüssen oder Umständen zum Trotz. Da nun die Umstände, unter denen Wissenschaftler ihre Meinung ändern, oft sehr kompliziert und von außen schwer einsehbar sind, werden sie oft übersehen, und wird ihre Meinungsänderung als Launenhaftigkeit oder Unsicherheit wahrgenommen.
Die Wissenschaft hatte es Anfangs schwer, aus dem Schatten der Religion hervorzutreten. Roger Bacon, der als theoretischer Vater der Wissenschaft der Wissenschaft gilt, musste die Erforschung der Natur noch mit der Genesis rechtfertigen, wo Gott Adam sucht, nachdem dieser vom Baum der Erkenntnis gegessen und sich versteckt hatte, nachdem er erkannt hatte, dass er nackt ist. Bacon verstand die Erforschung der Natur als Suche nach dem Schöpfer, der sich in der Schöpfung versteckt habe. Etwa zur gleichen Zeit musste sich die Forschung gegen die Büchergelehrsamkeit durchsetzen. Zu dieser Zeit galten die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles als unhintergehbare Wahrheit. Die Rezeption des Aristoteles war von der Kirche mit der Theorie der Degeneration der menschlichen Fähigkeiten erkauft worden. Demnach würden alle Sinne, verursacht durch den Sündenfall Adams, immer schlechter werden, weshalb ihnen nicht zu trauen sei. Die Sinne der alten Griechen, und damit auch des Aristoteles, seien daher besser als die der Menschen im ausgehenden Mittelalter. Seine Schriften enthielten also Erkenntnisse, die man nicht wiederholen könne. Davon emanzipierte die Wissenschaft sich durch den Gebrauch immer ausgefeilterer Geräte, wie dem Fernrohr, die diese Mängel ausgleichen sollten. Die Beobachtung des Forschers wurde langsam wichtiger als die Lehren antiker Autoren. Zu Beginn förderte die Wissenschaft also Erkenntnisse zutage, die jeder nachvollziehen konnte. Zu diesem Zweck wurden alle Versuchsanordnungen minutiös beschrieben, um sie reproduzierbar zu machen.
Im zweiten Weltkrieg stellte die sog. „Verbindung von Kittel und Uniform“ einen erheblichen
Vorteil für die Alliierten dar. Den Amerikanern gelang es, wie sonst niemandem, wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Anwendungen umzusetzen. So entstand nach dem Krieg unter anderem auch
das Internet, ursprünglich, um Informationen zischen Kernforschungseinrichtungen und dem Pentagon schneller austauschen zu können. Auch durch die friedliche Nutzung der Kernenergie verdiente sich
die Wissenschaft den Status eines Heilsbringers neben der Religion. Angesichts der offenbare Vorteile, die die Wissenschaft mit sich brachte, viel es den Menschen nicht schwer, ihr zu
folgen.
Heute betrachten viele Konsumenten eher Firmen wie Apple oder Tesla als Heilsbringer und weniger die wissenschaftliche Forschung, die deren Produkte erst möglich macht. Auch der Erfolg der Impfungen macht vielen deren Notwendigkeit unverständlich. Denn, da die Krankeiten, die 'weggeimpft' wurden, im Alltag nicht mehr gibt, verstehen viele Menschen den SInn und die Notwendigkeit weiterer Impfungen nicht, ohne die diese Krankheiten aber zurückkehren würden. Die Pharmaindustrie hat ihnen nämlich eingeimpft, dass es gegen jedes Problem eine schnell wirkende Pille gibt, die das Problem ein für allemal löst. Diese Lüge übertragen die Konsumtenten medizinischer Dienstleistungen dann auf alle Bereiche der Medizin und der Wissenschaft.
Wissenschaft bezieht sich auf objektiven Tatsachen. Das ist ihr Anspruch, durch den sie sich von der Religion unterscheidet, der aber auch zum Problem werden kann. Dieses Problem beginnt schon mit der Frage, was objektiv sei. Objektiv bedeutete ursprünglich reproduzierbar. Aber heutzutage basieren wissenschaftliche Aussagen auf einer großen Menge von Daten, die z.T. mit aufwendigen Geräten gewonnen werden und zu deren Verarbeitung man mitunter Supercomputer benötigt, zumindest aber Grundkenntnisse in Statistik, die die meisten von und nicht besitzen.
Als Galileo Galilei 1632 sein Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“ veröffentlichte, in dem er darlegte, dass die Erde sich um die Sonne drehe, war es nicht leicht, seine Meinung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Man musste zumindest einige Blätter in Druck geben, was sich nicht jeder leisten konnte. Heutzutage hat jeder, der es möchte, Zugang zum Internet und damit zu einem mehr oder weniger breiten Publikum. Doch schon als Brandt 1494 seine Satireschrift „Das Narrenschiff“ herausgab, spottete er, dass an jeder Ecke christliche Erbauungsschriften zu kaufen seien, die Menschen davon aber nicht besser würden. Heute geben sich an jeder Ecke im Internet Orthopäden als Corona-Experten aus. Und jeder wissenschaftlichen Tatsache, wie der Erderwärmung, die von 96% der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt wird, werden die 4% gegenübergestellt, die anderer Meinung sind. Von deren mangelnder fachlicher Eignung wird oft abgesehen. Da reicht es schon, dass ein selbsternannter Experte einen Doktor-Titel hat, ganz gleich, in welchem Bereich. Dass die Meinung dieser 4% aus gutem Grund nicht anerkannt wird, wird ignoriert. Stattdessen wird von Unterdrückung gefaselt. Das demokratische Prinzip der Meinungsfreiheit bedeutet zwar, dass jeder seine Meinung äußern darf. Es verpflichtet die Mehrheit aber nicht, sich der Meinung einer Minderheit zu beugen, so bequem sie auch erscheinen mag.
Diese Minderheitenmeinungen zeichnet in der Regel aus, dass sie emotionalen Bedürfnissen entsprechen, wie die Religion das mitunter auch tut. Wissenschaftliche Einsichten wie die in die Notwendigkeit, während einer Pandemie Masken zu tragen, oder angesichts rasant steigender Temperaturen die Wirtschaft umzubauen und auf manches zu verzichten, sind dagegen unangenehm. Sie zu verdrängen ist leicht, wenn man das Prinzip der Meinungsfreiheit und der Berücksichtigung von Minderheitsinteressen ausreichend verdreht und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
1934 brach Karl Popper mit der Vorstellung, dass Wissenschaft positive Wahrheiten produziere, also Wahrheiten mit Anspruch auf ewige Gültigkeit. Stattdessen, so Popper, sei jede wissenschaftliche Erkenntnis nicht wahr, sondern lediglich noch nicht widerlegt. Popper ersetzte den absoluten Wahrheitsbegriff durch einen provisorischen. Diese provisorische oder relative Gültigkeit verwechseln aber offenbar viele mit Beliebigkeit.
Objektivität bedeutet eben auch, dass von Gefühlen abstrahiert wird. Das wird zum Problem in den heute oft mit heftiger Emotionalität geführten Debatten. Heutzutage können Informationen schnell und leicht und zwischen jedem ausgetauscht werden. Dadurch verbreiten sich Halbwahrheiten aber genauso wie Tatsachen. Und wenn diese Halbwahrheiten einen emotionalen Nerv treffen, verbreiten sie sich sogar noch schneller als die Wahrheit, die es auch im Zeitalter der Wissenschaft noch gibt, so provisorisch sie auch sein mag.