In meinem Blog durchleuchte ich aktuelle Themen vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen und religiöser wie ideologischer Konzepte.

So ringe ich irritierenden Entwicklungen, an denen unsere Zeit reich genug ist, so etwas wie Sinn ab - zähme die Gegenwart oder bändige sie ein wenig.    

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Eigenverantwortung oder Verantwortung? (Mi, 12 Aug 2020)
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Eigenverantwortung oder Verantwortung?

Selbst, wenn heutzutage immer mehr Menschen akzeptieren, dass die Erderwärmung keine bloße Veränderung darstellt, sondern dass es sich um eine Katastrophe handelt, ist es dennoch wenig wahrscheinlich, dass sie deshalb in nächster Zukunft ihr Verhalten ändern werden.

 

Fragt man Rentner, die im Begriff sind, ein Kreuzfahrtschiff zu besteigen, ob sie wollen, dass ihre Enkel auf einem lebenswerten Planeten leben werden, werden sie diese Frage bejahen. Fragt man sie, ob sie dafür bereit seien, auf ihre Kreuzfahrt zu verzichten, werden sie Ausflüchte erfinden, um nicht darauf verzichten zu müssen. Sein Verhalten zu ändern, ist sehr schwer, zumal zwei Faktoren es stützten: die Befriedigung von Urinstinkten und das Verhalten anderer. Eigentlich kann man das auf die Befriedigung von Urinstinkten reduzieren. Denn kein Tier ist so sozial, macht sein Verhalten so sehr von dem anderer Menschen abhängig, wie der Mensch. Selbst ein Soziopath kann das Verhalten seiner Mitmenschen lesen und weiß, wie er ihr Verhalten so beeinflussen kann, dass ein für ihn vorteilhaftes Resultat herauskommt. Er vollzieht diese Kalkulation aber eben nur intellektuell und nicht emotional.

 

Schon Spinoza stellte im 17. Jahrhundert am Schluss einen langen und ausführlichen Werkes über die Moral fest, dass es unwahrscheinlich sei, dass ein Mensch, selbst wenn er verstünde, was gut sei, sein Verhalten dahingehend ändern würde. Das Problem: wir handeln in der Regel nicht bewusst und auf der Grundlage unseres Wissens, sondern intuitiv, auf der Grundlage unserer Erfahrungen (oder wie man damals sagte: unserer Begierden). Das hat sich in 2 Millionen Jahren Evolution auch bewährt. Wenn mich etwas nicht umbringt, erhält es mich offensichtlich am Leben. Dann sollte ich es unbedingt fortführen. So wurden jahrtausendelang auch sinnlose Rituale durchgeführt wie die Menschenopfer der Maya und Azteken, die die Sonne dazu bringen sollten, auch weiterhin aufzugehen. Die Gleichung „das bringt uns nicht alle um = das garantiert unser Überleben“ ist natürlich unvernünftig, weil ein Kurzschluss. Aber sie definiert den Weg des geringsten Risikos. Und wenn man nicht weiß, ob man dieses Jahr überlebt, ist jedes Risiko ein Risiko zu viel.

 

Unsere Vorfahren lebten immer unter sehr prekären Bedingungen. Noch unsere Großeltern oder Urgroßeltern kannten Hunger, in manchen Teilen Europas, wie in den armen Regionen Italiens, auch als ständigen, tagtäglichen Begleiter. Unter diesen Umständen macht man keine Experimente, d.h. man schlägt keine neuen Wege ein, wenn nicht das Leben akut bedroht ist. Das ist wohl auch mit ein Grund, warum sozialistische oder andere linke Regierungen in den meisten Ländern des Westens eher die Ausnahme darstellen. Die meisten Menschen wählen konservativ.

 

Nie zuvor hat der Mensch seine Umwelt so maßgeblich beeinflusst, dass sein eigenes Überleben davon abgehangen hätte. Und so leugnen auch heute viele Menschen diese Tatsache. Das wird dadurch erleichtert, dass diese Tatsache sich aufgrund ihrer Größe vor allem von Zahlen ableiten lässt. Und Zahlen sind abstrakt.

 

Außerdem sind wir mit so vielen Bedrohungen konfrontiert, dass man leicht abgelenkt wird. So fürchten, einer aktuellen Umfrage zufolge, mehr Polen als Deutsche den Klimawandel. Die Deutschen fürchten dafür Migration stärker. Das ist kein Wunder. Polen ist als relativ armes Land weitaus weniger Ziel von Migrationsbewegungen. Da Deutschland als reiches Land gilt, mit - im Vergleich zu Schweden – mildem Klima, ist es Traumziel vieler Migranten. Zumal es leichter erreichbar ist als die USA.

 

Dass allerdings beide Phänomene zusammenhängen, dass die Klimaerwärmung Migration begünstigt, wenn nicht auslöst, sehen viele nicht oder machen sie sich nicht ausreichend klar. Denn Klimaerwärmung wird in den nächsten Jahrzehnten Abermillionen von Menschen die Lebensgrundlage entziehen. Die Komplexität der Problemzusammenhänge in der Welt ist neben ihrer Abstraktheit ein weiterer Grund dafür, dass sie so schwer zu fassen und so leicht zu ignorieren ist.

 

Wie schwer es ist, sein Verhalten zu ändern, weiß jeder, der versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören. Wenn es einem gelungen ist, kann man kaum noch die Argumentationswege verstehen, die man gegangen ist, um ein Verhalten zu verteidigen, das einfach nicht zu verteidigen ist. Es ist, als wäre die Sucht ein Lebewesen mit Überlebenstrieb. Das Gleiche gilt für alle Gewohnheiten.

 

Umso schwerer ist es, sein Verhalten zu ändern, wenn das, was man tut, nicht illegal ist, das betreffende Konsumgut leicht zu erreichen ist und „alle es tun“. In einer Gesellschaft seinen Fleischkonsum einzuschränken, in der Fleischkonsum ein Statussymbol ist, ist nicht leicht. Für viele Studenten gehört Vegetarismus geradezu zum guten Ton. Es ist ein Mittel, sich gegen den Rest der Gesellschaft abzugrenzen und zu zeigen, dass man verstanden hat und fähig ist, aus Informationen Handlungsrelevanz abzuleiten. Es bleibt zu sehen, ob sich dieses Verhalten auch dann verfestigt, wenn man beruflich angekommen ist. Das muss nicht bei allen der Fall sein.

 

Für den Einzelnen ist es extrem schwer, sein Verhalten zu ändern, solange der Nachbar nicht mitmacht. Da eine Verhaltensänderung zumindest am Anfang sehr schmerzhaft sein kann, vermeidet man sie so lange, wie möglich, d.h. solange man nicht größeren Schmerz aus der Beibehaltung der Gewohnheit erwartet oder einem nicht eine Belohnung für deren Änderung winkt.

 

Ich kannte einen Mann, der vor meinen Augen gestorben ist und bis zu seinem Tod ausschließlich rotes Fleisch gegessen, Unmengen an Bier getrunken und eine Zigarette nach den anderen geraucht hat, obwohl er wusste, dass er Herzkrank ist. Das ist natürlich ein Extremfall. Aber viele kennen wahrscheinlich einen Raucher, der im Krankenhausnachttisch eine Stange Zigaretten aufbewahrt, die er sich nach seiner Lungenkrebs-OP gönnt.

 

Und wie viele Paare und Individuen gehen in eine monatelange Therapie, um schädliche Verhaltensweisen abzulegen. Die Umsetzung des dort Gelernten kann dann noch einmal Jahre dauern, wenn sie überhaupt gelingt.

 

Wenn so viele Dinge gegen eine Verhaltensänderung sprechen, ist es von Politik und Wirtschaft verantwortungslos, wenn nicht zynisch, auf die „Eigenverantwortung“ des Aufgeklärten Bürgers zu setzen. Denn, wie schon Spinoza feststellte: aus Aufklärung folgt noch nicht Änderung der Gewohnheiten. Aber weder Staat noch Wirtschaft finanzieren uns eine „Umwelt-Therapie“. Es wird erwartet, dass wir uns selbst therapieren - dass wir das einfach irgendwie selbst schaffen. Das aber bedeutet, sich auf einen sehr unwahrscheinlichen Fall zu verlassen und den „Patienten“ Konsument im Stich zu lassen. Ihn im Stich zu lassen, bedeutet aber auch: ihn den Fängen der Wirtschaft zu überlassen, die alle psychologischen Tricks nutzt, um den Konsumenten zum Kauf zu verführen.

 

Stattdessen sollte die Politik ihrer Verantwortung gerecht werden. Verbote sind dabei nur eines von vielen möglichen Mitteln. Aber vielleicht ist es ein Mittel, um das man nicht herumkommen wird, bedenkt man, dass trotz permanenter Anhebung der Tabaksteuer immer noch rund 40% der Deutschen Rauchen. Als sehr effektiv hat sich aber bei der Raucher-Prävention die Aufklärung von Schulkindern erwiesen. Aufklärung muss hier vor allem in der Schule einsetzen. Aber der Staat sollte auch andere Kanäle wie Plakatwerbung nutzen, um vor den Gefahren des Konsums zuckerhaltiger Getränke und den Folgen der Fleischproduktion für das Klima aufzuklären. Auch die richtige Benutzung einer Biotonne ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Hier wie in anderen Fällen setzt der Staat aber auf „Eigenverantwortung“. Wie realistisch ist das?

 

Das Umdenken muss hier beim Staat ebenso einsetzen wie bei Konsumenten und Wirtschaft. Keine Ecke dieser Trias kann sich ausnehmen. Dem Staat stehen dabei mit der Macht über die Verteilung von Abermilliarden an Steuermitteln starke Werkzeuge zur Verfügung, die er auch nutzen muss, wenn wir den apokalyptischen Reitern der Erderwärmung, Migration und Wassermangel entgehen wollen.

 

Wissenschaft am Abgrund

In der heutigen Zeit, gerade unter dem Eindruck der Corona-Krise und der Klimakatastrophe, stellt sich erneut die dringende Frage nach der Rolle der Wissenschaft in unserer Gesellschaft. In der Corona-Krise beschreitet beinahe jede Regierung einen anderen Weg bei der Bekämpfung des Virus. Dabei kann man die Regierungen danach unterscheiden, ob sie der Wissenschaft folgen oder nicht, und auf welche wissenschaftlichen Erkenntnisse oder Ratschläge sie sich bei ihren Entscheidungen stützen. Dabei werden nicht nur tiefe Verwerfungen zwischen den Staaten sichtbar, sondern auch innerhalb der einzelnen Staaten. In den Vereinigten Staaten etwa folgen einige, meist republikanische Gouverneure, der Linie des Präsidenten und verzichten auf Maskenpflicht und Abstandsregelungen, während andere, meist demokratische, Gouverneure auf der Maskenpflicht bestehen. Doch auch innerhalb der einzelnen Bundesstaaten haben die Bürger z.T. sehr unterschiedliche Ansichten zur Frage der Eindämmungstaktik, welche von ihren politischen Überzeugungen kaum zu trennen sind. Sich für das Tragen einer Maske auszusprechen, bedeutet fast immer auch, sich gegen Trump zu erklären. Trump ist es gelungen, die Frage der Maskenpflicht von einer wissenschaftlichen zu einer politischen Frage zu machen.

 

In Europa zeigt sich ein etwas anderes Bild. Hier richten sich seit Beginn der Krise alle Regierungen nach wissenschaftlichen Ratschlägen. Dabei besteht nur ein Unterschied darin, nach welchen Ratschlägen man sich richtet. Die EU-Staaten unterscheiden sich im Wesentlichen nach der Schnelligkeit, in der sie reagiert haben. Auf die Wissenschaft haben sie indes alle gehört.

 

Auf die Wissenschaft nicht zu hören, bedeutet aber auch, auf etwas anderes zu hören. Was ist dieses Andere aber? Die Staaten, die ihm folgen, sind vor allem die USA und Brasilien, deren Präsidenten bestenfalls als Populisten, schlimmstenfalls als Autokraten bezeichnet werden. Sie geben sich als Freunde des Volkes und gelten als Freunde der Wirtschaft. Nicht der Wissenschaft zu folgen, heißt hier vor allem, den Interessen der Wirtschaft zu dienen, für die ein „Einfach weiter so“ am günstigsten ist und die Kollateralschäden, also Zigtausende von Toten akzeptabel sind, solange der Profit stimmt. Gegenüber ihrer Wählerschaft geben sie ihre Entscheidung gegen die Wissenschaft als Entscheidung für die Freiheit aus und bringen die Freiheit damit in ein schiefes Licht.

 

Im Juli 2020 ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Podcast des Kabarettisten Dieter Nuhr gelöscht worden, in dem dieser daran erinnert, dass es in der Wissenschaft nicht Wahrheit sondern Wahrheitssuche bedeute, und dass man seine Meinung ändere, wenn sich die Sachlage ändere. Das löste eine Welle der Empörung aus. Aber warum?

 

Seine Meinung zu ändern, gilt heutzutage merkwürdigerweise als ehrenrührig. Man bewundert Menschen, die an ihrer Meinung festhalten, komme was wolle. Dabei ist es doch eigentlich ein Zeichen der heute so viel geforderten Flexibilität und das Gegenteil von Beratungsresistenz, seine Meinung zu ändern, sofern das nicht grundlos geschieht sondern wohl begründet. Für die Präferenz einer breiten Öffentlichkeit für beharrliche Menschen gibt es zwei mögliche Erklärungen. Zum einen ist Beharrlichkeit seit Alters her eine Tugend. Diese moralische Wertschätzung hat sich noch nicht an die Moderne angepasst, in der vor allem die Wissenschaft in immer kürzeren Abständen neue Fakten zutage fördert. Eine andere Erklärung könnte sein, dass man den Begriff des ‚Umstands‘ falsch interpretiert, der ja für die Beharrlichkeit von zentraler Bedeutung ist. Denn Beharrlichkeit bedeutet ja, dass man einen einmal eingeschlagenen Weg beibehält, allen äußeren Einflüssen oder Umständen zum Trotz. Da nun die Umstände, unter denen Wissenschaftler ihre Meinung ändern, oft sehr kompliziert und von außen schwer einsehbar sind, werden sie oft übersehen, und wird ihre Meinungsänderung als Launenhaftigkeit oder Unsicherheit wahrgenommen.

 

 

 

Die Wissenschaft hatte es Anfangs schwer, aus dem Schatten der Religion hervorzutreten. Roger Bacon, der als theoretischer Vater der Wissenschaft der Wissenschaft gilt, musste die Erforschung der Natur noch mit der Genesis rechtfertigen, wo Gott Adam sucht, nachdem dieser vom Baum der Erkenntnis gegessen und sich versteckt hatte, nachdem er erkannt hatte, dass er nackt ist. Bacon verstand die Erforschung der Natur als Suche nach dem Schöpfer, der sich in der Schöpfung versteckt habe. Etwa zur gleichen Zeit musste sich die Forschung gegen die Büchergelehrsamkeit durchsetzen. Zu dieser Zeit galten die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles als unhintergehbare Wahrheit. Die Rezeption des Aristoteles war von der Kirche mit der Theorie der Degeneration der menschlichen Fähigkeiten erkauft worden. Demnach würden alle Sinne, verursacht durch den Sündenfall Adams, immer schlechter werden, weshalb ihnen nicht zu trauen sei. Die Sinne der alten Griechen, und damit auch des Aristoteles, seien daher besser als die der Menschen im ausgehenden Mittelalter. Seine Schriften enthielten also Erkenntnisse, die man nicht wiederholen könne. Davon emanzipierte die Wissenschaft sich durch den Gebrauch immer ausgefeilterer Geräte, wie dem Fernrohr, die diese Mängel ausgleichen sollten. Die Beobachtung des Forschers wurde langsam wichtiger als die Lehren antiker Autoren. Zu Beginn förderte die Wissenschaft also Erkenntnisse zutage, die jeder nachvollziehen konnte. Zu diesem Zweck wurden alle Versuchsanordnungen minutiös beschrieben, um sie reproduzierbar zu machen.

 

Im zweiten Weltkrieg stellte die sog. „Verbindung von Kittel und Uniform“ einen erheblichen Vorteil für die Alliierten dar. Den Amerikanern gelang es, wie sonst niemandem, wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Anwendungen umzusetzen. So entstand nach dem Krieg unter anderem auch das Internet, ursprünglich, um Informationen zischen Kernforschungseinrichtungen und dem Pentagon schneller austauschen zu können. Auch durch die friedliche Nutzung der Kernenergie verdiente sich die Wissenschaft den Status eines Heilsbringers neben der Religion. Angesichts der offenbare Vorteile, die die Wissenschaft mit sich brachte, viel es den Menschen nicht schwer, ihr zu folgen.

Heute betrachten viele Konsumenten eher Firmen wie Apple oder Tesla als Heilsbringer und weniger die wissenschaftliche Forschung, die deren Produkte erst möglich macht. Auch der Erfolg der Impfungen macht vielen deren Notwendigkeit unverständlich. Denn, da die Krankeiten, die 'weggeimpft' wurden, im Alltag nicht mehr gibt, verstehen viele Menschen den SInn und die Notwendigkeit weiterer Impfungen nicht, ohne die diese Krankheiten aber zurückkehren würden. Die Pharmaindustrie hat ihnen nämlich eingeimpft, dass es gegen jedes Problem eine schnell wirkende Pille gibt, die das Problem ein für allemal löst. Diese Lüge übertragen die Konsumtenten medizinischer Dienstleistungen dann auf alle Bereiche der Medizin und der Wissenschaft.

 

Wissenschaft bezieht sich auf objektiven Tatsachen. Das ist ihr Anspruch, durch den sie sich von der Religion unterscheidet, der aber auch zum Problem werden kann. Dieses Problem beginnt schon mit der Frage, was objektiv sei. Objektiv bedeutete ursprünglich reproduzierbar. Aber heutzutage basieren wissenschaftliche Aussagen auf einer großen Menge von Daten, die z.T. mit aufwendigen Geräten gewonnen werden und zu deren Verarbeitung man mitunter Supercomputer benötigt, zumindest aber Grundkenntnisse in Statistik, die die meisten von und nicht besitzen.

 

Als Galileo Galilei 1632 sein Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“ veröffentlichte, in dem er darlegte, dass die Erde sich um die Sonne drehe, war es nicht leicht, seine Meinung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Man musste zumindest einige Blätter in Druck geben, was sich nicht jeder leisten konnte. Heutzutage hat jeder, der es möchte, Zugang zum Internet und damit zu einem mehr oder weniger breiten Publikum. Doch schon als Brandt 1494 seine Satireschrift „Das Narrenschiff“ herausgab, spottete er, dass an jeder Ecke christliche Erbauungsschriften zu kaufen seien, die Menschen davon aber nicht besser würden. Heute geben sich an jeder Ecke im Internet Orthopäden als Corona-Experten aus. Und jeder wissenschaftlichen Tatsache, wie der Erderwärmung, die von 96% der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt wird, werden die 4% gegenübergestellt, die anderer Meinung sind. Von deren mangelnder fachlicher Eignung wird oft abgesehen. Da reicht es schon, dass ein selbsternannter Experte einen Doktor-Titel hat, ganz gleich, in welchem Bereich. Dass die Meinung dieser 4% aus gutem Grund nicht anerkannt wird, wird ignoriert. Stattdessen wird von Unterdrückung gefaselt. Das demokratische Prinzip der Meinungsfreiheit bedeutet zwar, dass jeder seine Meinung äußern darf. Es verpflichtet die Mehrheit aber nicht, sich der Meinung einer Minderheit zu beugen, so bequem sie auch erscheinen mag.

 

Diese Minderheitenmeinungen zeichnet in der Regel aus, dass sie emotionalen Bedürfnissen entsprechen, wie die Religion das mitunter auch tut. Wissenschaftliche Einsichten wie die in die Notwendigkeit, während einer Pandemie Masken zu tragen, oder angesichts rasant steigender Temperaturen die Wirtschaft umzubauen und auf manches zu verzichten, sind dagegen unangenehm. Sie zu verdrängen ist leicht, wenn man das Prinzip der Meinungsfreiheit und der Berücksichtigung von Minderheitsinteressen ausreichend verdreht und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

 

1934 brach Karl Popper mit der Vorstellung, dass Wissenschaft positive Wahrheiten produziere, also Wahrheiten mit Anspruch auf ewige Gültigkeit. Stattdessen, so Popper, sei jede wissenschaftliche Erkenntnis nicht wahr, sondern lediglich noch nicht widerlegt. Popper ersetzte den absoluten Wahrheitsbegriff durch einen provisorischen. Diese provisorische oder relative Gültigkeit verwechseln aber offenbar viele mit Beliebigkeit.

 

Objektivität bedeutet eben auch, dass von Gefühlen abstrahiert wird. Das wird zum Problem in den heute oft mit heftiger Emotionalität geführten Debatten. Heutzutage können Informationen schnell und leicht und zwischen jedem ausgetauscht werden. Dadurch verbreiten sich Halbwahrheiten aber genauso wie Tatsachen. Und wenn diese Halbwahrheiten einen emotionalen Nerv treffen, verbreiten sie sich sogar noch schneller als die Wahrheit, die es auch im Zeitalter der Wissenschaft noch gibt, so provisorisch sie auch sein mag.

 

 

 

 

 

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Robin DiAngelo: White Fragility/ Wir müssen über Rassismus sprechen - eine Buchbesprechung

 

 

Dieses Buch befand sich wochenlang auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste (jetzt auf Platz 2) - in den USA. In Deutschland hat die Übersetzung „Wir müssen über Rassismus sprechen“ es bislang nicht unter die Top 100 geschafft. Ein weiteres Zeichen dafür, wie tief der atlantische Graben mittlerweile geworden ist, dass in Deutschland Rassismus nicht von einer breiten Masse als Problem wahrgenommen wird oder für den guten Geschmack der Deutschen, was Bücher anbelangt und die Verführbarkeit der Amerikaner? Für letzteres spricht, dass dieses Buch schon in den USA fast durchweg schlechte Kritiken erhalten hat. Auf DiAngelos Seite selbst finden sich nur drei positive Kritiken, zwei von anderen Autoren und eine von einem Magazin für Schulbildung – wahrscheinlich die drei einzigen positiven, da alle größeren Zeitungen bislang nur Verrisse veröffentlichten.

 

Die deutsche Amazon-Bestseller-Liste führt hingegen ein Corona-Faktencheck an, gefolgt von einem Kinderbuch, das inneres Wachstum verspricht, und einem Buch für Erwachsene, das Freundschaft mit dem ‚inneren Kind‘ als Lösung „(fast) aller Probleme“ anpreist, vor allem aber zum Schlüssel für gelungenere Beziehungen. Auf den ersten Blick sind die Deutschen demnach eher von der Coronakrise ganz in ihren Bann gezogen. Sie wollen alles über die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen wissen, sind um die Erziehung ihrer Kinder besorgt, die sie nicht mehr ohne Weiteres an die Schulen delegieren können, und möchten nun auch mit ihrem inneren Kind Kontakt aufnehmen, vielleicht auch an der Qualität der verbliebenen, durch die Selbstisolierung der Frühlingsmonate auf eine Probe gestellten Beziehungen arbeiten. Rassismus scheint hier jedenfalls ebenso wenig weit oben auf der Tagesordnung zu stehen wie Umweltschutz. Die Spiegel-Bestseller-Liste bestätigt diesen Eindruck. Mit Prechts „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“, Schirachs und Kluges „Trotzdem“, das sich ebenfalls mit der Zeit nach dem „Shutdown“ beschäftigt und „Unsere Welt neu denken“ von der Ökonomin Maja Göpel richten die Deutschen ihren Blick fest in die Zukunft nach Corona und wollen wissen, was sich ändern muss und was bleiben darf.

 

Rassismus spielt dabei aber scheinbar gar keine Rolle, Umweltschutz vor allem unter dem ökonomischen Aspekt. Vielleicht sehen wir uns nicht als rassistisch. Aber das ist Thema einer eigenen Untersuchung, vielleicht einer Untersuchung, die jeder selbst anstellen muss.  

 

Im Gegensatz zu den Deutschen haben die Amerikaner die dunkeln Seiten ihrer Geschichte bislang nicht in breiter Öffentlichkeit aufgearbeitet. Ja, es gab eine Bürgerrechtsbewegung von den 60er Jahren bis heute. Aber der Süden der USA hat sich selbst dabei immer herausgenommen und nie in Gänze zu ihrer historischen Schuld bekannt. Der Norden hat es ihnen auch nicht leicht gemacht, hat er sie doch nach dem Bürgerkrieg 1861-65 systematisch diskriminiert und ausgeraubt, was es den Weißen im Süden erleichterte, sich trotz all der Gewalt gegen Schwarze, die nach dem Ende der Sklaverei in verwandelter Form wieder aufflammte, als Opfer zu sehen.

 


Ähnlich wie in Deutschland den AfD-Anhängern hängt in den USA das, was sie als „Political Correctness“ bezeichnen zum Hals raus. Man kann darin eine Abwehrreaktion gegen einen unvermeidbaren Prozess sehen, der auf eine gerechtere Gesellschaft hinausläuft und an Gewohnheiten und vielleicht auch Pfründen rührt, die viele nicht gerne aufgeben wollen.

 

Worauf sich DiAngelo konzentriert, ist allerdings die Abwehrreaktion, die ihr entgegenschlägt, wenn sie in ihren Workshops, die sie für Unternehmen durchführt, die Teilnehmer mit deren eigenem Rassismus konfrontiert. Das Problem ist nur: DiAngelo ist selbst weiß und hat Rassismus nie am eigenen Leib erfahren. Ihre Haltung ist die einer linken intellektuellen Sozialwissenschaftlerin, die sich als Kämpferin für Gleichberechtigung von Frauen und Farbigen in Szene setzt. Leider kommen im ganzen Diskurs über ihr Buch keine Zeugen zu Wort, so dass wir nur DiAngelos Theoriekonstrukt haben, das uns versichert, dass jede/r Weiße auch ein/e Rassist/in ist. Und wer das nicht zugibt, ist sich dessen nur nicht bewusst. Das bringt ihr mitunter den Vorwurf ein, Scientology-Methoden zu verwenden oder eher eine Bekehrerin zu sein als eine Aufklärerin.

 

Dass man wütend reagiert, wenn man als Rassist bezeichnet wird, verwundert nicht. Aber DiAngelo beruhigt: es handle sich um ein Missverständnis. Rassismus sei nämlich keine individuelle, moralische Eigenschaft sondern ganz normal, wenn man Teil eines rassistischen Systems sei. Wer mit der Theorie des Rassismus nicht vertraut ist, kann DiAngelos Buch dennoch einige interessante Informationen übernehmen, die sie von anderen Gelehrten entlehnt. Allerdings insistiert die Autorin sehr darauf, dass Rassismus ein System sei, in dem Weiße profitieren. Daraus folgt dann, dass man, wenn man weiß ist, auf der Profiteur-Seite der Gesellschaft steht. Leider macht einen dass für DiAngelo dann auch schon zum Rassisten in diesem ‚systemischen‘ und eben nicht-moralischen Sinn von Rassismus.

 

Während diese Unterscheidung zwischen Rassismus als individueller moralischer Akt, der einen als bösen Menschen kennzeichnet, und Rassismus als Teilhabe an einem System, das Menschen mit dunkler Hautfarbe benachteiligt, für Intellektuelle zur Steilvorlage für ihre Kritik wird, ist sie aber vielleicht für den amerikanischen Durchschnittsleser gerade verlockend, was auch den Erfolg des Buches zum Teil erklären würde. Denn zum einen mache ich mich keiner moralischen Verfehlung schuldig, ich bin kein schlechter Mensch, wenn ich über Schwarze Vorurteile habe oder mir der Vorteile nicht bewusst bin, die das rassistische System mir verschafft, in das ich geboren wurde. Schuld bin nicht ich. Schuld ist die Sozialisation, die die Amerikaner laut DiAngelo erzogen werden, nicht anzuerkennen. Stattdessen werden sie vom Individualismus darauf gedrillt, Erfolg und Misserfolg auf genetische Veranlagung oder Leistung zurückzuführen. Daraus ergebe sich dann, dass Schwarze weniger erfolgreich seien, weil sie sich weniger anstrengten oder genetisch unterlegen seien. Ziel dieser Gehirnwäsche ist es, den Platz, den jeder in der Gesellschaft einnimmt, zu akzeptieren, den eigenen wie den der Anderen. Als Belohnung erhält man als Weißer Vorteile, derer man sich aber nicht bewusst sei. Hierin liegt die Crux des Buches.

 

Denn leider gelingt es DiAngelo nicht ausreichend die Kluft zwischen bewusstem Verhalten und unbewussten Strukturen überzeugend theoretisch einzufangen. Das verwundert nicht, ist sie als Coach doch in erster Linie Pragmatikerin. So erscheint es selbst gebildeten Lesern unplausibel, dass es eine „White Solidarity“ geben solle, wenn die meisten Weißen sich des real existierenden Rassismus nicht bewusst sein sollen. Nun, auch diese Solidarität ist eben unbewusst. Di Angelos Ansatz fehlen hier auch die Abstufungen. Natürlich gibt es Weiße, die sich ihres Rassismus bewusst sind. DiAngelo erwähnt sie auch, wenn es um die Unterschicht geht, die durch Rassismus geteilt und so politisch handlungsunfähig gemacht werden soll – ein klassisches Argumentationsmuster des Sozialismus und für Europäer nicht weiter erstaunlich. Aber fehlende Abstufungen sind nichts, was uns an einer amerikanischen Autorin überraschen würde. Es erscheint uns eher typisch amerikanisch und wird von der amerikanischen Kritik auch gar nicht angemerkt.  

 

DiAngelo erwähnt Trump nur als politischen Profiteur der „White Fragility“, der „Weißen Zerbrechlichkeit“, womit die Zerbrechlichkeit dieser Maske des Selbstbetrugs gemeint ist, dass man sich nicht als Rassist sehe, aber vom systematischen Rassismus profitiere. Auf ihn trifft aber wie auf kaum einen Zweiten zu, dass er seinen Erfolg ganz und gar auf genetische Überlegenheit UND Leistung gründet (ohne dass eines von Beidem zuträfe).     

 

An dieser Stelle bekommt man als Europäer den Eindruck, dass DiAngelo ganz einfach Sozialistin sei und das in den USA nur nicht offen sagen oder ausleben könne, da das dort ungefähr so akzeptiert ist wie Homosexualität in der Türkei. Die linken Intellektuellen der 60er und 70er Jahre in Deutschland und Frankreich krankten ja an der gleichen Weltfremdheit, aus der dann, gepaart mit Gewalt, die RAF hervorging. Fast alle stammten sie aus der Mittelschicht und hatten Arbeiter bestenfalls einmal auf der Straße getroffen. Und alle waren sie von Schriften, vor allem von Marx, die Philosophen auch von dessen geistigem Vater Hegel, beeinflusst.

 

Auch DiAngelo scheint der Wirklichkeit ihren theoretischen Sack überstülpen zu wollen. Und wenn das nicht funktioniert, ist es die Schuld der Wirklichkeit, nur das diese Wirklichkeit in diesem Fall aus Menschen besteht.    

 

Ein letzter Kritikpunkt im Diskurs, den das Buch in den USA ausgelöst hat, ist, dass DiAngelo politische Proteste gegen Rassismus ablehnt, weil diese nur der Beruhigung des eigenen Gewissens dienten, und stattdessen für eine lebenslange Arbeit am eigenen Rassismus plädiert. Das wird ihr als Selbstquälerisch oder puritanisch ausgelegt. Ich will hier nicht darüber spekulieren, wieviel DiAngelos katholische Herkunft spekulieren, die das selbstquälerische Moment erklären könnte. Es ist ihr intellektuelles Recht, die vita contemplativa der vita activa vorzuziehen. Allerdings könnte man sich fragen, ob hier auch kapitalistische, soll heißen: finanzielle Interessen eine Rolle spielen könnten. Denn natürlich erscheint einem Anti-Rassismus-Coach eine Nation von Menschen, die versuchen, den Rassisten aus sich auszutreiben, durchaus verlockender als eine Nation von Menschen, die glauben, sich mit politischen Demonstrationen bereits auskuriert zu haben.

 

Letztlich sehe ich keinen Grund, warum man nicht das Eine tun sollte ohne das Andere zu lassen. Für Anti-Rassismus-Coaches gäbe es nicht weniger Klientel. Bei den Polizisten könnte man anfangen.