Die Pfirsichblütenozeanprinzessin

 

 

Bild: Kap. I, Der Pfirsichbaum trägt Früchte (Aquarellskizze)

© by Anastasia Kozyreva  

Kap. II Der Bücher-Planet

Ein Auszug aus meiner noch in Arbeit befindlichen phantastischen Erzählung

 

"Die Pfirsichblütenozeanprinzessin".

Auf dem Bücher-Planeten war einst, von den Sternen entsandt, eine Buchecker gelandet. Aus ihr war als erster Baum des Planeten naturgemäß eine Buche gewachsen. Die Bewohner des Planeten waren ebenfalls aus Bucheckern entstanden, die in den Ur-Ozean dieses Planeten gefallen waren. Die Kontinente waren hier nicht aus Schaum, sondern aus dem Laub der Buche entstanden, das ins Meer gefallen war und das die Buchianer zusammengeschoben hatten. So war eine sanfte Hügellandschaft ohne hohe, steile Berge entstanden, die zur Verbreitung der Buche ideal war. Und es verwundert nicht, das sich die Buchianer nicht die Mühe machten, verschiedene Arten von Pflanzen zu züchten, sondern den ganzen Planeten mit Bucheckern übersäten. Aus den Bucheckern der Ur-Buche entstanden ganz von alleine die verschiedensten Sorten von Buchen, auch solche, die auf anderen Planeten, also auch bei uns, völlig unbekannt sind. Einige waren nur so groß wie Kamillen, andere höher als die höchsten Urwaldriesen der Erde.

Die verschiedenen Arten von Buchen eigneten sich für unterschiedliche Verwendungszwecke. Ein Verwendungszweck sollte aber für das Leben der Buchianer wegweisend werden. Nachdem ein sonnengelbes Blatt der Ur-Buche, das erste, das sich verfärbt hatte und abgefallen war, segelte es zu Boden und näherte sich unaufhaltsam der Oberfläche des Urozeans, da betrachteten die ersten Buchianer, die aus den ersten herabgefallenen Bucheckern entstanden waren, dieses „Schauspiel“ mit großer Neugier und weit aufgerissenen Augen. Es erfasste sie unbändige Verspieltheit und sie liefen um die Wette den Baum hoch – für Buchianer eine Leichtigkeit. Jeder wollte als erster auf das Blatt springen und darauf durch die Luft fliegen. Einigen gelang das auch. Doch weil das Blatt nun zu schwer war, geriet es ins Trudeln und stürzte ab. Die Buchianer, die es geritten hatten, verletzten sich schwer und hatten furchtbare Schmerzen. Sie hätten sich durch ihren Leichtsinn umgebracht, wenn es den Tod auf diesem Planeten damals schon gegeben hätte. So musste die Urbuche in ihrer mütterlichen Fürsorge heilsame Säfte produzieren und die Buchianer anweisen, ihre Borke anzuritzen, um sie zu zapfen.

Das leuchtende Blatt aber brachten einige der mutigsten Buchianer bis zur höchsten Stelle der Buche, von wo aus sie es an den Himmel klebten. Dort leuchtete es fortan als Sonne zur Mahnung, dass man nicht auf Buchenblättern reiten soll, und um den Planeten zu beleuchten, damit sich die Buchianer nicht wieder bei irgend einem unsinnigen Wettbewerb verletzten, falls sie der Schalk doch einmal wieder reiten sollte. Einen Mond hat der Buchenplanet übrigens nicht. Ein Licht für die Nacht war nicht nötig, denn von diesem Ur-Ereignis eingeschüchtert und durch die große gluckenhafte Buche zurechtgewiesen wurden die Buchianer furchtbar vernünftig. Die Ur-Buche hatte nun aber dummerweise das gleiche Problem, das wir schon von unserem Ur-Pfirsichbaum kennen: es wurde ihr mit der Zeit schrecklich heiß unter ihrer Sonne. Sie behalf sich zunächst damit, dass sie die Buchianer, die in großer Zahl die Ur-Insel bevölkerten und ohnehin nichts besseres zu tun hatten, anwies, jeder solle ein Buchenblatt so falten und rollen, dass es als Transportgefäß für Wasser geeignet sei. Das taten die Buchianer auch in großer Zahl artig. Sie falteten Buchenblatteimer, trugen das Wasser des Urozeans die Borke der Buche hinauf und überschütteten ihre Blätter, Zweige, Äste und den Stamm damit. Das kühlte die Buche ab, so dass sie sich viel wohler fühlte. Das Wasser verdunstete aber in der Glut der Sonne und ballte sich über der Buche zu einer großen Gewitterwolke zusammen. Aus dieser Wolke löste sich nach einiger Zeit ein Blitz und raste in die Buche! Schon stand sie lichterloh in Flammen! Viele Buchianer flohen vor Angst und Entsetzen in Blättern, die sie mit Stengeln ruderten, und verteilten sich so auf den ganzen Planeten. Wo immer sie außer Sichtweite des lodernden Feuers der Ur-Buche kamen, sammelten sie das Laub, das mittlerweile – seit dem Anfang dieser Welt war schon geraume Zeit vergangen – zu kleinen Inseln zusammengerottet fast das ganze Meer bedeckte, und schoben es – wie schon gesagt – zu größeren Inseln und Kontinenten zusammen.

Den Buchianern, die nicht flohen, gelang es nicht, den Brand der Ur-Buche mit dem Wasser aus dem Ozean zu löschen, das sie in Eimern über das Feuer gossen. Denn an die höher gelegenen Stellen kamen sie gar nicht erst heran. Und unten verdampfte das Wasser schneller, als sie es nach schütten konnten. Da schämte sich die Wolke für das, was sie angerichtet hatte, und begann zu weinen. Der Regenschauer, der nun auf die Ur-Buche herabkam, löschte den Brand. Das Wasser floss mit Asche vermischt in schwarzen Bächen die Borke herab und über den Boden der Urinsel ins Meer. Nach all der Aufregung ruhten sich die verbliebenen Buchianer aus und vertrieben sich die Zeit damit, mit dem schwarzen Schlamm, der so entstanden war, auf den Blättern der Buche zu zeichnen.

Als einige der Geflohenen zurückkehrten und sahen, was die Daheim gebliebenen erfunden hatten, brachten sie diese Erfindung in alle Teile des Buchenplaneten. Da der Buchenplanet nun aber überwiegend aus großen und kleinen Inseln besteht, machte man aus den Zeichnungen bald Schriftzeichen, um sich über die Meere hinweg verständigen zu können. Die Zeichen wurden immer ausgefeilter, bis daraus Schriften entstanden. Diese Schriften waren einander sehr ähnlich, da der ganze Planet sehr einheitlich war und das Meer seine 87 Weltteile mehr verband als trennte. So entstand aus einer Katastrophe mit der Zeit eine regelrechte Brief- und Buchkultur. Und da die verschiedenen Buchen sich sehr gut zum Bau von Häusern aber manche Sorten auch zur Herstellung von Druckerpressen und Papier eigneten und man aus ihrer Asche sehr gute Tusche herstellen konnte, schrieben und lasen die Buchianer bald mehr als sie sprachen. Es hieß, man sei kein echter Buchianer, wenn man nicht mindestens einen Brief am Tag und ein Buch im Leben schrieb. Ja, ein Buch zu schreiben, war hier wichtiger, als ein Haus zu bauen. „Besser ein eigenes Buch über dem Kopf als ein Dach.“, lautete so eine Redewendung, die jedes Kind kannte.

Und tatsächlich: auf einem Planeten, der großteils von Buchen bedeckt war, war es leicht, sich vor Regen und Kälte zu schützen. Ein Haus galt daher auf vielen Inseln als Luxus und etwas für alte Leute. Eine Ausnahme gab es allerdings: für Bücher baute man gerne Häuser! Und zwar nicht irgendwelche Hütten, sondern große herrliche Gebäude, in die die Buchianer alle ihre Kunstfertigkeit steckten. So wohnten die Bücher auf dem Buchenplaneten besser als die Könige und man hätte leicht die Bibliotheken für Paläste halten können. Als die Prinzessin den Buchenplaneten zum ersten mal betrat, dachte sie daher, er würde von den Büchern beherrscht werden. Einen Nachteil hatte die ausschließliche Holzarchitektur des Buchenplaneten allerdings: die Gebäude fingen fast bei jedem Gewitter Feuer. Zwar entwickelte man bald ausgeklügelte Blitzableiter, die die Bauten nicht selten verschandelten, wenn man sie eilig und unsachgemäß oder erst nachträglich angebracht hatte. Und auch das Feuerwehrwesen war, wie man sich anhand der Geschichte dieses Planeten leicht wird denken können, nicht nur hoch entwickelt, sondern der Stand des Feuerwehrmannes rangierte gleichauf mit dem des Arztes oder Gelehrten. Trotzdem waren Brände an der Tagesordnung und mit den Bibliotheken, in denen die Bücher residierten, brannten natürlich auch die Bücher! Um die Texte vor dem Vergessen zu retten, hatte sich zur Buch- eine regelrechte Gedächtniskultur entwickelt. Der Schulunterricht bestand neben lesen und schreiben vor allem im Auswendiglernen von Texten. Zum Abitur musste man ein Buch fehlerfrei auswendig aufsagen können – mit Punkt und Komma, versteht sich! Um einen akademischen Titel zu erringen, 30 Bücher, für einen Doktortitel 100 und Professoren hatten nicht selten Tausende von Büchern in ihren Köpfen gespeichert.

Natürlich merkten sich die Gelehrten die betreffenden Bücher nicht immer aufs Wort und Komma gleich. Und wenn das Unglück es wollte, dass das Original eines Buches trotz Kopien in den zahlreichen Bibliotheksbränden untergegangen war, konnten regelrechte Gelehrtenkriege um Satzzeichen entbrennen, die nicht selten in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten gipfelten.

So waren die Akademien, in denen die Gelehrten ausgebildet wurden, mindestens so bedeutend wie die Bibliotheken. Historisch gesehen waren sie sogar älter als diese. Denn als es noch gar nicht so viele Bücher gegeben hatte, dass es sich gelohnt hätte, ihnen eigene Häuser zu bauen, als gerade die ersten Hefte vollgeschrieben waren, hatten einige der älteren und vernünftigeren Buchianer bemerkt, dass fast in allen Heften nur Unsinn stand. Die meisten waren mit Erkenntnissen gefüllt wie: „Wenn die Sonne aufgeht, wird es hell. Wenn sie untergeht, dunkel.“ oder „Essen schmeckt am besten, wenn es lecker ist.“ Um solche Banalitäten von dem wirklich Wissenswertem zu unterscheiden, dass nicht ein Zehntel des bis dahin Aufgeschriebenen ausmachte, wurde auf der Ur-Insel im Schatten der Ur-Buche die erste Akademie gegründet. Diese Einrichtung verbreitete sich schnell über den ganzen Planeten, weil alle ihre Nützlichkeit einsahen. Wenn man neun von zehn Büchern getrost vergessen konnte, gab es nicht mehr so viel, was man auswendig lernen musste. Einige Gelehrte aber sträubten sich dagegen, den Unsinn vom Sinnvollen zu unterscheiden, weil sie fürchteten, wenn es nicht mehr so viel gäbe, was man sich brüsten konnte, auswendig gelernt zu haben, würden ihre akademischen Titel im Wert sinken. Darum schrieben sie weiterhin Unsinn und lehrten auch ihre Schüler, Unsinn zu schreiben, und zwar möglichst viel! Diese Unsitte konnte trotz aller Bemühungen bis heute nicht überwunden werden und hat sich mit der Zeit sogar in den Akademien selbst breit gemacht, die doch ursprünglich dazu gedacht waren, den Unsinn auszurotten. Je mehr Bücher es gab, desto mehr wurde auch der Schulunterricht auf das Auswendiglernen ausgerichtet. Ironischerweise wurden daher immer weniger Bücher geschrieben, in denen noch etwas wirklich Neues gestanden hätte, denn fast niemandem war in der Schule noch beigebracht worden, selbstständig zu denken, sondern eben nur, Worte auswendig zu lernen. Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen (denn man brauchte Architekten, die die Bibliotheken wieder aufbauten und musste natürlich die Bücher zählen können, die darin standen) und eben Auswendiglernen waren die einzigen Fächer, die bald noch unterrichtet wurden. Das Auswendiglernen machte dabei ab der dritten Klasse fünf Sechstel der Unterrichtszeit aus.

Ein junger Buchianer, den man allgemein nur den Wipfelhocker nannte, weil der seine ganze Freizeit damit verbrachte im Wipfel seiner Lieblings-Buche zu sitzen, in den Himmel zu schauen und seinen Träumen und Gedanken nachzuhängen, litt unter dieser Form des Unterrichts ganz besonders. Denn es war ihm von frühester Kindheit an ein Graus gewesen, auswendig zu lernen. Viel lieber erkundete er auf eigene Faust die Buchenwälder, die seinen Heimatort umgaben. Weder seine Eltern noch seine Lehrer oder Schulkameraden hatten dafür Verständnis. Während seine Mitschüler ihre Freizeit damit verbrachten, Auswendiglernen zu üben, um später einmal Karriere als Akademiker oder im Staatsdienst zu machen, streifte Wipfelhocker durch die Wälder und lies sich vom Wind auf einem der Äste seiner Lieblings-Buche auf und ab wiegen. Dabei stellte er sich vor, er würde einen großen Vogel reiten, der ihn über die Wälder seiner Insel, über alle Wälder und alle Inseln in den Himmel hinaustragen würde. Dann erträumte er sich andere Welten zwischen den Sternen und Nebeln, auf denen andere seltsame Wesen lebten, die nicht den ganzen Tag über nur Bücher und Auswendiglernen im Kopf hatten. Er versuchte, sich vorzustellen, was sie alles an merkwürdigen Dingen tun könnten, wobei ihm die Natur seines Volkes durchaus zur Hilfe kam, das – wir erinnern uns – in seinen Anfängen nur Unfug im Kopf gehabt hatte. Unfug aber ist vergnüglicher und sinnvoller als der Unsinn der gelehrten Unsinnschreiber – allerdings auch gefährlicher!